Tal der Trnen - Als Schalke Meister der Herzen wurde 11FREUNDE

19. Mai 2001|17:18 Uhr Im Parkstadion behlt Trainer Huub Stevens die Fassung. Er hebt mahnend die Hnde vor der Spielerbank, an der Nico van Kerckhoven vor Freude Klimmzge macht. Dann pfeift Hartmut Strampe das Spiel ab. Mike Bskens schnappt sich nach dem Abpfiff den Spielball: Das ist der Meisterball, den stecke ich in meine Tasche

19. Mai 2001 | 17:18 Uhr 
 
Im Park­sta­dion behält Trainer Huub Ste­vens die Fas­sung. Er hebt mah­nend die Hände vor der Spie­ler­bank, an der Nico van Kerck­hoven vor Freude Klimm­züge macht. Dann pfeift Hartmut Strampe das Spiel ab. Mike Büs­kens schnappt sich nach dem Abpfiff den Spiel­ball: Das ist der Meis­ter­ball, den stecke ich in meine Tasche und gebe ihn nie wieder her.“ Ste­vens schickt die Spieler in die Kabine, die alte, nicht mehr funk­tio­nie­rende Roll­treppe hoch. Einige bleiben den­noch im Innen­raum, zusammen mit Rudi Assauer, Andreas Müller und Auf­sichts­rats­mit­glied Jürgen W. Möl­le­mann in seinem Fall­schirm­sprin­ger­anzug.

Tau­sende im Sta­dion hängen nun an den Lippen zweier Männer, einer sitzt direkt in ihrer Nähe. Das Spiel auf Schalke ist aus. Wir warten auf Vollzug“, kann Manni Breuck­mann noch sagen. Doch dann sieht er von seinem Platz aus, wie die Men­schen der Falsch­mel­dung auf­sitzen, dass in Ham­burg schon Schluss sei. Immer wieder steht er auf, um die Leute zu infor­mieren, zu beru­higen, wedelt mit den Armen. Doch es brachte alles nichts. Keiner hat es in diesem Taumel mit­be­kommen. Mein Kol­lege Alex Bleick berich­tete immer noch aus Ham­burg, das Spiel lief, und ich war der Ein­zige in meinem Umkreis, der das mit­bekam. Eine absurde Situa­tion.“

Die Falsch­mel­dung hat meh­rere Etappen. Kurz nach dem Abpfiff auf Schalke heißt es zum ersten Mal, dass das Spiel in Ham­burg eben­falls zu Ende sei. Nico van Kerck­hoven aber stürmt zu Rudi Assauer und ruft: Es ist noch nicht aus!“ Assauer wird für alle Umste­henden zum Grad­messer, der Mann, der wäh­rend der ganzen Saison gewarnt hat: Wer vorher feiert, feiert umsonst.“ Schnell beru­higt sich alles, Fritz von Thurn und Taxis von Pre­miere“ kom­men­tiert: Die letzte Befreiung fehlt noch.“ Doch dann kommt Assauers Geste: Ihm wird wieder mit­ge­teilt, das Spiel in Ham­burg sei zu Ende, er macht einen Auf­wärts­haken wie ein Boxer, neben ihm lächelt Jiri Nemec – für den Tsche­chen ein unglaub­li­cher Gefühls­aus­bruch. Das Feu­er­werk anläss­lich des letzten Spiels im Park­sta­dion startet – doch selbst das Knallen der Raketen wird von der Geräusch­ku­lisse im Sta­dion geschluckt. Fans stürmen den Platz, die Falsch­mel­dung ist durch­ge­bro­chen und nicht mehr auf­zu­halten. Just in diesem Moment erscheint ein Flim­mern auf der Video­lein­wand über der Süd­kurve, die eigent­lich schon direkt nach dem Abpfiff in Gel­sen­kir­chen anspringen sollte, aber einen tech­ni­schen Defekt hatte. Die letzten Minuten aus Ham­burg werden über­tragen, viele halten es für eine Auf­zeich­nung. Doch das Spiel ist noch immer nicht aus.

Den Wahn­sinn kann das nicht mehr stoppen. Premiere“-Fieldreporter Rolf Fuhr­mann gra­tu­liert Andreas Müller zur Meis­ter­schaft, hinter ihnen läuft das Spiel in Ham­burg auf der Lein­wand. Ich weiß nicht, wie es steht“, sagt Müller. Es ist zu Ende in Ham­burg, Sie sind Meister“, ent­gegnet Fuhr­mann. Ganz großes Lob an den HSV. Ich liebe euch“, so Müller, dann wird ihm von Ver­eins­ver­tre­tern ein über­großes Pils­glas über­reicht. Jedes Mal, wenn ich Fuhr­mann danach getroffen habe, hat er sich bei mir ent­schul­digt. Ihm tat es sehr leid.“ Teile der Fans feiern den Titel, andere bli­cken zur Lein­wand, nachdem sie gemerkt haben, dass dort doch keine Wie­der­ho­lung läuft. Es war, als würde man bei seiner eigenen Beer­di­gung zuschauen“, umschreibt es ein Fan.
Tor­wart Oliver Reck liegt da schon unterm Tisch in der Trai­ner­ka­bine, wo die Spieler die letzten Minuten in Ham­burg auf dem Bild­schirm ver­folgen. Da pas­siert noch was“, sagt er zu Andreas Möller. Ich weiß es, oh Gott.“ Als Kapitän Tomasz Wal­doch zu den Medi­en­ver­tre­tern gehen will, hält ihn Reck am Ärmel fest. Tommy, es ist noch nicht vorbei!“

19. Mai 2001 | 17:20 Uhr 

Patrik Andersson trifft für die Bayern zum 1:1. Bayern ist Meister. Die Nach­richt geht direkt ins Blut. In der Süd­kurve sackt ein alter Mann zusammen, er sagt: Ich wollte doch nur einmal Meister werden.“ Fritz von Thurn und Taxis ruft drei Wörter: Um Gottes willen!“ Rudi Assauer winkt ab und tau­melt Rich­tung Roll­treppe. Auf dem Rasen bre­chen viele Fans heu­lend zusammen, anderen fehlt die Kraft zum Weinen. Dem rie­sigen Kon­zert des Jubels wird der Ste­cker gezogen. Eine gespens­ti­sche Stille legt sich über das Sta­dion. Was man jetzt noch hört, ist das unauf­hör­liche Knallen der Raketen, es ist wie bei der Band, die auf der unter­ge­henden Titanic spielt. Wer als Außen­ste­hender diese Bilder sieht, muss Fritz von Thurn und Taxis’ Befürch­tung teilen: Hof­fent­lich tut sich keiner etwas an.“
Doch wer ist in diesem Moment noch Außen­ste­hender? Der Schrift­steller Steffen Kopetzky ist Bayern-Fan und für die Zeit“ vor Ort. In dem wohl besten Artikel über diesen Tag – er trägt den Titel Schalke im Nacken“ – schreibt er: Ein­samer fühlte ich, der Bayern-Fan, mich nie, und ver­zwei­felter, als in diesem Augen­blick, als Schalke nicht mehr Deut­scher Meister war.“

19. Mai 2001 | 17:25 Uhr

Auf dem Rasen trauern die Fans, in den Kata­komben die Spieler, Ebbe Sand ist in sich zusam­men­ge­fallen, er kauert auf dem Boden, Fla­schen und Stühle fliegen durch den Trai­ner­raum. Bänke, Türen, Fern­seher – nichts ist mehr heil geblieben. Zum Glück hat uns keiner die Rech­nung geschickt“, sagt Marco van Hoog­dalem. Youri Mulder lacht, ohne es zu wollen. Es war so skurril. Ich habe mal mit einem Rad­renn­fahrer gespro­chen. Er sagte, dass bei Stürzen auf der Berg­ab­fahrt die anderen Fahrer lachen. Aber nicht aus Scha­den­freude, son­dern weil sie so nervös sind und keine Kon­trolle über ihre Emo­tionen haben. Genauso fühlte ich mich in diesem Moment.“ Jörg Böhme zündet sich eine Ziga­rette an. Rudi Assauer und Huub Ste­vens ver­su­chen erfolglos, die Spieler zu trösten. Assauer wird Minuten später auf der Pres­se­kon­fe­renz den Jour­na­listen berichten, in welche Augen er gesehen hat. Erzählt mir nichts mehr davon, dass Fuß­baller nur eis­kalte, berech­nende Pro­fi­teure sind.“ Es folgt sein viel­zi­tierter Satz: Ich habe den Glauben an den Fuß­ball­gott ver­loren.“

Dieser schnelle Umschlag vom höchsten Gefühl auf diese unend­liche Trauer – das habe ich so noch nicht erlebt“, sagt Manni Breuck­mann. Er bleibt nach dem Spiel noch minu­ten­lang kon­ster­niert auf seinem Repor­ter­platz sitzen. Man­fred Hen­driock, Redak­teur bei der West­fä­li­schen Rund­schau“, wird am kom­menden Tag schreiben: Es war, als wenn man das Liebste ver­liert, das man besitzt.“
Huub Ste­vens’ Gesichts­züge sind hart, sein Blick starr und die Worte klar. Er ruft die Mann­schaft zusammen, gra­tu­liert ihr zur Leis­tung der Saison und sagt: Wir haben nächsten Samstag noch einen Titel, den DFB-Pokal, zu holen.“ Dann schickt er sie raus auf die Tri­büne zu den Fans, die unten auf dem Rasen stehen. Minuten nach dem Tief­schlag schreit einer in die Stille. Es ist der sim­pelste, aber prä­gendste Ruf: Schaaaaaalke!“ Er wie­der­holt ihn, immer mehr stimmen mit ein. Die Mann­schaft steht gezeichnet auf der Tri­büne, als You’ll never walk alone“ gespielt wird, ver­liert selbst Huub Ste­vens den Kampf mit den Tränen. Sta­di­on­spre­cher Dirk Ober­schulte-Beck­mann hat das Lied aus­ge­wählt Alle fühlten gleich, alle waren getroffen“, erin­nert er sich. Als wir dann zusammen sangen, war das ein unglaub­li­ches Gefühl der Zusam­men­ge­hö­rig­keit.“

Die Spieler treffen sich im Haus des Ersatz­tor­warts Frode Grodas. Anfangs war es ganz ruhig, doch dann artete es in eine rich­tige Frust­party aus“, erzählt Ebbe Sand. Die Woh­nung muss reno­viert werden – und das nicht im sprich­wört­li­chen Sinn. Um die 200 Fans sind da noch auf dem Gelände des Park­sta­dions, sie schaffen es ein­fach nicht, nach Hause zu gehen. Da tritt Rudi Assauer aus seinem Büro auf den Balkon vor der Geschäfts­stelle und hält eine flam­mende Ansprache – in nicht immer ganz ver­ständ­li­chem Ton.

Allein am Mon­tag­morgen treten 500 Leute dem Verein bei, zum letzten Trai­ning vor dem Pokal­fi­nale erscheinen 15 000 Anhänger. Schalke holt durch ein 2:0 gegen Union Berlin den Pott. Und im Schalker Block des Ber­liner Olym­pia­sta­dions ist ein Plakat zu lesen: Alles wird gut.“

Epilog

Men­schen neigen dazu, bestimmte Ereig­nisse der Geschichte nicht beim Namen zu nennen, son­dern nur beim Datum. Auf Schalke spricht man seither vom 19. Mai“. Dieser Tag machte aus dem Wunsch­traum der Meis­ter­schaft ein zwang­haftes Streben.

Es sind diese Momente, von denen sich die Schalker Fans auf Aus­wärts­fahrten immer wieder erzählen. Wo immer sie auch wohnen, wo sie her­kommen und wie alt sie sind – ihre Bio­gra­fien kreuzen sich an diesem Punkt. Jeder weiß, wie er diese 4 Minuten und 38 Sekunden erlebt hat.

Sie werden in den Jahren nach jenem 19. Mai zum Sisy­phos des deut­schen Fuß­balls und fort­wäh­rend erfolglos einen Stein den Meis­ter­hügel hin­auf­schieben: 2005, 2007, 2010. Mann­schafts­be­treuer Charly Neu­mann sagte einmal: Ich hoffe, der liebe Gott lässt mich noch einmal mit der Meis­ter­schale durch unsere Arena laufen.“ 2007, als Schalke die Meis­ter­schaft beim Erz­ri­valen Borussia Dort­mund ver­spielt, ist Charly Neu­mann schon schwer krank, doch er besteht darauf, nach dem Spiel zum Schalker Block geführt zu werden. Erst leise, dann immer lauter bricht sich der Jubel Bahn. Von Ord­nern gestützt steht Neu­mann vor der Kurve, die Fans rufen minu­ten­lang Charly, Charly“, wie sie es schon in den acht­ziger Jahren nach den Abstiegen der Schalker getan haben.
Charly Neu­manns großer Traum erfüllt sich nicht. Er stirbt am 11. November 2008.

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